Von Heimarbeit und Fliegenwedeln: Aus den Annalen des Kreisarchivs Teil 4
WETTERAUKREIS. - Das überhand nehmende Scheibenschießen, die Spinnstuben, die Feierabendstunde und das Karten- und Hazardspiel: Dies sind nur einige Themen, denen sich 1843 der großherzogliche Kreisrat Küchler in seinem umfangreichen Amtsblatt mit der Nummer neun widmet. Auf Seite drei findet sich eine „Polizei-Verfügung“ mit folgendem Betreff: „Fliegenwedelhandel nach England ec. und Mitnehmen schulpflichtiger Kinder und Weibspersonen.“
Not und Armut in den ländlichen Gegenden des Großherzogtums Hessen waren groß, viele wanderten aus und auf den armen Dörfern lebten die Menschen auch von Heimarbeit. Im Frühjahr wurde bestellt, im Winter hergestellt: Besen zum Beispiel, oder Fliegenwedel. Verkauft wurde über Land.
Jedes Jahr zogen Menschen aus den Dörfern nach England, verkauften als Landfahrer ihre Fliegenwedel und kamen – wenn auch nicht reich – so doch mit so viel Geld wieder zurück, da der Fliegenwedelhandel ein lukratives Geschäft zu sein versprach. Immer mehr wollten auf diesen Zug aufspringen.
Um Kunden für die Fliegenwedel anzulocken wurde auf den Märkten auch getanzt und gesungen. Mit auf die Reisen nach England, aber auch in andere europäische Länder und seit den 1860er Jahren sogar bis nach Kalifornien, gingen auch Kinder und Mädchen. Weil sie zur Drehleier (englisch: hurdy-gurdy) sangen und tanzten wurden sie auch Hurdy-Gurdy-Girls genannt.
Irgendwann verselbständigte sich der Handel mit Fliegenwedeln, standen immer stärker die Mädchen und jungen Frauen im Mittelpunkt des Geschäfts. Was mit Fliegenwedeln begann endete in der Prostitution.
Mit mäßigem Erfolg versuchte die Obrigkeit, dem Einhalt zu gebieten, doch die Aussicht auf leicht verdientes Geld war zu verlockend. In geschwungener Prosa und bandwurmähnlichem Satzbau erinnert Kreisrat Küchler im Amtsblatt an eine Weisung vom 3. März 1841. Und wer zwischen den Zeilen liest, ahnt die Not der Menschen:
„Denjenigen Personen, welche in der Absicht, den Fliegenwedelhandel zu treiben oder als Musikanten oder durch sonstige gewöhnlich im Umherziehen betrieben werdende Gewerbe sich Verdienst zu verschaffen, in das Ausland reisen, ist es durchaus verboten, Kinder oder Frauenspersonen (außer ihren eigenen Ehefrauen) mögen diese dem Inlande oder dem Auslande angehören, oder mögen sie Mitglieder ihrer Familien seyn oder nicht, auf ihre Reise mitzunehmen.“
Ausdrücklich verboten ist es, Kinder oder Frauen für jemand anderen anzuwerben, als Eltern, Vormund oder Pflegeeltern seine Kinder auf Reisen jemandem mitzugeben. „Unverheiratheten Frauenspersonen und jungen noch nicht selstständig etablirten Burschen ist es ganz untersagt, den Fliegenwedelhandel oder andere ähnliche gewöhnlich nur als Deckmantel für unerlaubte Zwecke dienende Gewerbe auf eigene Rechnung im Auslande zu betreiben oder dazu sich Anderen zu vermiethen.“
Wer dabei erwischt wird riskiert eine Geldstrafe von 15 bis 30 Gulden. Kann jemand dies nicht bezahlen, winkt das Gefängnis. Der Tagessatz lag bei 40 Kreuzern, was bei einer Stückelung von 60 Kreuzern pro Gulden 22 bis 45 Tage Knast entsprach. Im Wiederholungsfall doppelt so viel.
Machen sich „Kinder oder unter väterlicher Gewalt stehende Frauenspersonen“ heimlich oder gegen den Willen der Eltern auf den Weg, müssen diese „unverzüglich und längstens binnen 12 Stunden nach der Entfernung der Polizeibehörde ihres Wohnortes die Anzeige machen.“
Notfalls wird steckbrieflich gesucht
„Die Ortspolizeibehörden haben von solchen heimlichen Entfernungen unverzüglich dem ihnen vorgesetzten Kreisrath die Anzeige zu machen, damit die erforderlichen Maßregeln (Steckbriefe ec.) um der sich entfernt habenden Kinder wider habhaft zu werden, alsbald ergriffen werden können.
Diejenigen, welche etwa auf Anwerbungen zu Reisen der erwähnten Art betreten werden, sind von der betreffenden Ortspolizeibehörde zu arretiren und an den ihr vorgesetzten Kreisrath zur alsbaldigen Einleitung der nöthigen Untersuchung und Bestrafung abzuliefern.“